Ab Freitag muss ein neuer Richter am Landgericht Memmingen ein massiv fehlerhaftes Urteil korrigieren. Darum hat München den Freibrief für die massenhafte Verbreitung von Nazi-Propaganda durch Oldschool Records kassiert.
»Ohne jegliche Systematik, Subsumtion und Prüfungsdarlegung wird eine Strafbarkeit wegen Volksverhetzung abgelehnt«. Mit solchen Worten kassierte das Oberlandesgericht in München den Memminger Freispruch, mit dem der Neonazi-Unternehmer Benjamin Einsiedler hätte davon kommen können. Was wir als »Freibrief für Nazi-Propaganda« bei Oldschool Records kritisierten, kanzelte der Münchner Strafsenat als lückenhaft, rechtsfehlerhaft und formfehlerhaft ab.
Das Landgericht Memmingen legte Rechtsgrundlagen und sein Verständnis der strittigen Äußerungen grundsätzlich wohlwollend und im Sinne des angeklagten Neonaziunternehmers aus. Immer wieder lässt die Argumentation des Richters wenig Distanz zum eindeutig politisch gefärbten Vorbringen des Szeneverteidigers erkennen.
Ab Freitag muss nach Weisung der Münchner Richter am Landgericht Memmingen deshalb eine andere Kammer unter Vorsitz eines anderen Richters erneut feststellen, ob der Vertrieb der Neonazi-Tonträger aus Bad Grönenbach den Straftatbestand der Volksverhetzung, der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und anderer Strafnormen erfüllt. Auch die Entscheidung, Einsiedler sei für ihm im Rahmen des Verfahrens entstandenen Unannhemlichkeiten zu entschädigen, kassierten die Münchner Richter.
Aus über 900 Straftaten werden 88 Anklagepunkte, wird eine Geldstrafe und schließlich der Freispruch
Bereits am 17. Dezember 2015 legte die Staatsanwaltschaft Memmingen die Anklage gegen Benjamin Einsiedler am Amtsgericht Memmingen vor. Die 88 Anklagepunkte fasste die Staatsanwaltschaft aus ursprünglich über 900 bereits 2014 bei einer Razzia von der Polizei erfassten Straftaten zusammen. Vorgeworfen wurde dem Betreiber von Oldschool Records der vorsätzliche Besitz einer verbotenen Waffe sowie das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen, Volksverhetzung, Gewaltdarstellung, Belohnung und Billigung von Straftaten. Außerdem habe er mit dem Vertrieb von Tonträgern gegen das Jugendschutzgesetz verstoßen.
Das Amtsgericht Memmingen ließ mit Beschluss vom 18. April 2016 die Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zu und eröffnete das Hauptverfahren vor dem Schöffengericht. Dieses verurteilte den Angeklagten am 15. Dezember 2016 wegen Volksverhetzung in vier Fällen, der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen in zwei Fällen und der vorsätzlichen Überlassung von jugendgefährdenden Trägermedien zu einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 40 € und wegen vorsätzlichem Besitz einer verbotenen Waffe zu einer Geldbuße von 250 €. Im Übrigen wurde der Angeklagte freigesprochen.
Gegen dieses Urteil legte Rechtsrock-Anwalt Alexander Heinig für Benjamin Einsiedler am 16. Dezember 2016 Berufung ein. Auch die Staatsanwaltschaft zog am 21. Dezember nach, zog ihr Rechtsmittel aber in der deshalb angesetzten Hauptverhandlung vom 24. April 2018 vor dem Landgericht Memmingen zurück. Dadurch verlieh sie dem Teilfreispruch des Amtsgerichtes unanfechtbare Rechtskraft.
Oberlandesgericht kassiert Freispruch für Neonazi-Unternehmer
Mit Urteil vom 24. Mai 2018 sprach das Landgericht Memmingen den Angeklagten sodann von sämtlichen Vorwürfen frei. Das Gericht begründete den Freispruch damit, dass zum Teil schon die Voraussetzungen des objektiven Tatbestands der jeweils in Betracht kommenden Strafvorschriften nicht gegeben seien. Teilweise verneinte das Gericht zudem das Vorliegen subjektiver Tatbestandsmerkmale. Es nahm an, dass der Angeklagte nicht vorsätzlich gehandelt beziehungsweise sich in einem Irrtum befunden habe. Worin genau dieser Irrtum bestanden habe, blieb das Geheimnis der Landgerichtskammer. Außerdem stellte das Gericht fest, dass der Angeklagte für die am 13. Mai 2014 bei ihm durchgeführte Durchsuchung und Beschlagnahme zu entschädigen sei. Bisher also keine Spur von der »Zerschlagung« von Oldschool Records, die Lokalmedien nach der Razzia herbeischrieben.
Die gegen den Freispruch gerichtete Revision des Memminger Generalstaatsanwalts hatte vor dem Oberlandesgericht allerdings überwiegend Erfolg. In nur zwei Fällen hielt der Freispruch der Prüfung des Revisionsgerichtes stand. Die Freisprüche zu Ziffer 1 bis 6 hob das Revisionsgericht sämtlich auf – und wies den einstig vorsitzenden Richter Herbert Krause deutlich zu Recht.
»Goebbels für alle« verherrlicht NS-Herrschaft
Den Freispruch vom Tatvorwurf der Volksverhetzung wegen Verbreitung der CD »Adolf Hitler lebt« der Gruppe »Gigi und die braunen Stadtmusikanten« hob das Oberlandesgericht auf, da sowohl das Lied »Goebbels für alle« als auch das Lied »Geschwür am After« den objektiven Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen. Einsiedler hatte eingeräumt, die CD in einer Vielzahl von Fällen vertrieben zu haben.
Das Landgericht Memmingen erkannte im Stück »Goebbels für alle« keine Formulierungen, aus denen sich irgendein Hinweis darauf ergibt, dass mit dem Text zum Hass aufgestachelt oder zu Gewalt oder Willkürmaßnahmen aufgefordert oder die Menschenwürde anderer angegriffen wird. Auch gegen die Würde der Opfer der nationalsozialistischen Terrorherrschaft werde in dem Lied nicht in verletzender Weise vorgegangen. Denn: Ein Bezug zu Opfern lasse sich dem Lied »Goebbels für alle« laut dem Memminger Landgerichtsurteil nicht entnehmen. Irgendwelche Opfer oder Opfergruppen würden nicht erwähnt. Es gehe lediglich um die Person Dr. Goebbels. Damit werde zwar das NS-System als Ganzes gebilligt. Aber wenn dieses Billigen bereits die Würde der Opfer verletzte, hätte der Gesetzgeber nicht die Formulierung »in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise« in das Gesetz geschrieben. Daher sei es eng auszulegen.
Damit argumentierte Landgerichtsrichter Herbert Krause nach dem Vorbringen von Rechtsanwalt Alexander Heinig, der im Sinne seiner radikal rechten Mandantschaft gerne eine Rechtsprechung durchgesetzt sähe, die nicht nur den Volksverhetzungsparagraphen so eng wie möglich auslegt. Immer wieder plädiert der Neonazi-Anwalt, der einst selbst als Rechtsrocker auf einschlägigen Bühnen stand, in Gerichtssälen für eine grundsätzliche Revision der Strafnorm.
Doch »diese Begründung trägt nicht die Verneinung des in Frage stehenden objektiven Tatbestandes«, urteilt der Senat am Oberlandesgericht in München. Durch den Verkauf der CDs hat Benjamin Einsiedler demnach Schriften verbreitet, deren Inhalt den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft als etwas Großartiges, Imponierendes oder Heldenhaftes verherrlicht. Darunter ist nach Rechtsauffassung des OLG München nicht nur die direkte Glorifizierung der Unrechtshandlungen der NS-Gewalt- und Willkürherrschaft zu verstehen, sondern es reicht aus, wenn das Dargestellte in einen positiven Bewertungszusammenhang gestellt wird oder in der Schilderung der Unrechtshandlungen und ihrer Verantwortlichen positive Akzente gesetzt werden. Dies könne sich zum Beispiel darin ausdrücken, dass ein Verantwortungsträger oder eine Symbolfigur des NS-Regimes angepriesen oder in besonderer Weise hervorgehoben wird, wie das vorliegend der Fall ist.
Josef Goebbels war als Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda einer der einflussreichsten Politiker des NS-Regimes und damit eine Symbolfigur, die durch die Aussage im Lied, wer von Propaganda etwas verstehen wolle, müsse bei ihm in die Lehre gehen, gerade in ihrer politischen Funktion und Stellung und nicht als private Person gepriesen wird. Dies im Zusammenhang mit seiner positiven Bezeichnung als Kassenschlager »kann nicht anders als die Verherrlichung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willküherrschaft im Ganzen verstanden werden«, so das Urteil aus München. Entgegen der vom Landgericht vertretenen Rechtsauffassung bedürfe es auch keiner ausdrücklichen Bezugnahme auf Opfer oder Opfergruppen. In der Regel könne davon ausgegangen werden, dass die Verherrlichung der NS-Gewalt- und Willkürherrschaft bzw. einer ihrer Leitfiguren den Achtungsanspruch sowie die Menschenwürde der Opfer verletzt.
Landgericht machte es sich zu einfach
»Hinsichtlich des auf derselben CD mit dem Titel ›Adolf Hitler lebt‹ befindlichen Liedes ›Geschwür am After‹ hat das Landgericht im Ergebnis zutreffend eine Strafbarkeit gemäß § 130 Absatz 3 StGB verneint«, schreibt München. Auch damit hatte es sich das Memminger Gericht aber zu leicht gemacht. Denn die Strafbarkeit scheitere »nicht daran, dass das Lied »Geschwür am After« den NS-Völkermord nicht leugnet, sondern daran, dass die Norm als Äußerungsdelikt voraussetzt, dass der Täter eine eigene Stellungnahme zum Ausdruck bringt«. Jedoch sei die Volksverhetzung nach Absatz 5 in Verbindung mit Absatz 3 und Absatz 2, Nummer 1a des entsprechenden Paragraphen dennoch erfüllt.
Es werde, so das Landgericht, zwar der Bezug zur Herrschaft des NS-Regimes hergestellt durch die im allgemeinen Bewusstsein verankerten Assoziationen zu der Zeile »Bilder von den Schienen und vom Eingangstor«, weil jedermann klar sei, dass damit die Außenansicht auf das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz gemeint sei. Auch könne der Formulierung »doch Wahrheiten von heute sind Lügen morgen / Und so viele ihrer Leichen sind bis heute nicht gestorben« ohne weiteres entnommen werden, dass damit die Zahlen zu Opfern der verbrecherischen Gewaltherrschaft generell angezweifelt und auch ohne jegliche Auseinandersetzung mit den Fakten pauschal als unrichtig dargestellt werden sollen. Nach ganz überwiegender Rechtsprechung, der sich die Kammer anschließt, reichten derart allgemein gehaltene Formulierungen jedoch nicht zur Erfüllung der Tatbestandsmerkmale »billigen, leugnen oder verharmlosen» nach Absatz 3 des Volksverhetzungsparagraphen aus. Es wäre vielmehr ein ausdrückliches quantitatives oder qualitatives Bagatellisieren von Art, Ausmaß, Folgen oder Wertwidrigkeit einzelner oder der Gesamtheit nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen zur Tatbestandserfüllung erforderlich. Ein Billigen oder Leugnen von Gewaltmaßnahmen sei dem Text nicht zu entnehmen. Auch aus dem Gesamtzusammenhang ergebe sich kein (sicherer) Nachweis dafür, dass mit dem Text die Verharmlosung der angeführten Gewaltmaßnahmen ausgedrückt werden solle.
»Diese rechtliche Begründung ist nicht tragfähig«, kassiert das OLG München scharf die Memminger Auffassung, die der Argumentation von Rechtsanwalt Alexander Heinig auf den Leim ging. Der nämlich wetterte während der Verhandlung in Memmingen wie in anderen Gerichtssälen zuvor gegen die Ergänzungen, die der Volksverhetzungsparagraph mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. Oktober 1994 erhielt. Damit fügte der Gesetzgeber den Tatbestand des Billigens, Leugnens oder Verharmlosens des Völkermordes an der jüdischen Bevölkerung unter der Herrschaft des Nationalsozialismus in die Strafnorm ein, um rechtsradikale Propaganda, wie sie Benjamin Einsiedler seit Jahren bisher weitgehend ungehindert aus Bad Grönenbach vertreibt, wirksamer ahnden zu können. Wegen deren gefährlicher Auswirkungen auf das politische Klima sollte die Anwendung des § 130 StGB in der Praxis erleichtert und die generalpräventive Wirkung der Strafvorschrift der Volksverhetzung erhöht werden, namentlich im Blick auf die Diffamierung und Diskriminierung jüdischer Mitbürger.
Das Handlungsmerkmal des Verharmlosens ist demnach bereits dann erfüllt, wenn der Äußernde den Holocaust herunterspielt, beschönigt oder in seinem wahren Gewicht verschleiert. Alle denkbaren Facetten agitativer Hetze wie auch verbrämter diskriminierender Missachtung sollen erfasst werden. Nicht erforderlich ist das Bestreiten des Völkermordes als historisches Gesamtgeschehen, es genügen ein »Herunterrechnen der Opferzahlen« und sonstige Formen des Relativierens oder Bagatellisierens seines Unrechtsgehalts, wobei es sich dann um eine abgeschwächte Form des Leugnens handelt.
Ein solches Relativieren und Bagatellisieren liegt hier nach dem Urteil des Oberlandesgerichts München vor: »Das NS-Gewalt- und Massenvernichtungsunrecht im Konzentrationslager Auschwitz ist eine geschichtliche Tatsache. Demgegenüber geht die Aussage der einschlägigen Textpassage des Liedes erkennbar dahin, dass es nicht in dem geschichtlich anerkannten Umfang zu dem Massenmord in Auschwitz gekommen sei, indem gesagt wird, ›Doch Wahrheiten von heute sind die Lügen von morgen / Und so viele ihrer Leichen sind bis heute nicht gestorben‹.« Im Gesamtkontext zeige der Liedtext somit ein umfassendes Herunterspielen der Opferzahlen, nicht nur ein zahlenmäßiges Infragestellen im Randbereich der geschichtlich feststehenden Größenordnung.
»Weisse Wölfe«
Auch der Freispruch vom Tatvorwurf der Volksverhetzung wegen Verbreitung der CD »Jahrzehnte der Dekadenz« der Gruppe »Weisse Wölfe« (im Memminger Urteil entgegen der eigenen Schreibweise mit »ß« geschrieben) aus tatsächlichen Gründen konnte vor dem Oberlandesgericht München nicht standhalten. Wiederum hatte es sich das Landgericht zu einfach gemacht und festgestellt, dass auf den beim Angeklagten sichergestellten und von ihm vertriebenen CDs das Lied »Schmuddelpunk« nicht enthalten sei.
Gestützt wird diese Feststellung auf die Angaben des Angeklagten beziehungsweise des Verteidigers. Der hatte mit der Behauptung, dass verschiedene Versionen der bei Benjamin Einsiedler gefundenen Tonträger im Umlauf sind für einen vorzeitigen Abbruch am ersten Tag im Berufungsprozess gesorgt. Darauf musste die Polizei für Heinig die Asservate bei der Staatsanwaltschaft neu prüfen. Bei der Razzia stellte die Polizei immerhin 23.500 Tonträger sicher.
Da das Urteil jedoch weder verrät, ob die Ermittler zu einem Ergebnis gekommen sind, noch den Inhalt der Einlassung des Angeklagten mitteilt, konnte der Münchner Senat nicht überprüfen, ob das Landgericht seine Feststellung rechtsfehlerfrei getroffen hat und hob den Freispruch auf.
»Sturm über Europa«
Den Freispruch vom Tatvorwurf der Volksverhetzung durch Verbreiten der CD »Sieben auf einen Streich« mit dem darauf enthaltenen Lied »Sturm über Europa« der Gruppe »Abtrimo« hob der Münchner Strafsenat ebenfalls auf.
Zwar habe »das Landgericht erkannt, dass zur Beurteilung der Frage, wie eine Äußerung zu verstehen ist, ihr objektiver Sinngehalt unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls aus der Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums durch Auslegung zu ermitteln ist.« Dabei dürfe ihr im Lichte der durch das Grundgesetz geschützten Meinungsfreiheit keine Bedeutung beigelegt werden, die sie objektiv nicht hat, und im Fall der Mehrdeutigkeit darf nur dann von der zur Verurteilung führenden Deutung ausgegangen werden, wenn andere, straflose Deutungsmöglichkeiten mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen werden können. Andererseits stünden die Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Kunstfreiheit einer Bestrafung wegen Volksverhetzung nicht entgegen, »da diese stets zurücktreten müssen, wenn die Menschenwürde anderer als oberster Wert und Wurzel aller Grundrechte angetastet wird«, schreibt das OLG. Die Würde des Menschen sei »mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig«.
Das Revisionsgericht darf allerdings nicht selbst eine Auslegung entgegen der des Memminger Tatrichters treffen. Es darf dessen Auslegung allerdings auf Rechtsirrtümer, Lückenhaftigkeit oder Unsinnigkeit überprüfen. Das trifft hier zu. Das Landgericht habe die erforderliche Auslegung »entweder gar nicht oder lediglich lückenhaft vorgenommen und verstößt gegen allgemeine Auslegungsregeln«, heißt es aus München. Erstens habe das Landgericht sich bei der Auslegung des Wortes »Mullahs« auf eine Definition aus der Wikipedia beschränkt, jedoch vollkommen außer Acht gelassen, in welchem Kontext das Wort gebraucht wurde. So sei weder der übrige Liedtext, noch der Titel des Liedes, der weitere Inhalt der CD oder die Interpreten bei der Auslegung in den Blick genommen worden. Das wird ein anderer Richter am Landgericht nachzuholen haben. Zweitens wurde die Auslegung bezüglich der Wortfolge »Mob aus dem Orient« völlig unterlassen und mit der Begründung, es gäbe im Orient nicht nur Muslime, das Vorliegen einer abgrenzbaren Bevölkerungsgruppe verneint. Dies versteht der Münchner Strafsenat als fehlerhaft. Das Tatgericht hätte vielmehr prüfen müssen, ob der Wortfolge aufgrund des Gesamtzusammenhanges innerhalb des Liedtextes sowie der übrigen bereits genannten Aspekte ein eindeutiger Sinn entnommen werden kann und ob dieser dann gegebenenfalls eine Religionsgruppe, wie zum Beispiel die im Inland lebenden Muslime, oder einen abgrenzbaren Bevölkerungsteil, bezeichnet. Das neue Tatgericht wird hierbei berücksichtigen müssen, dass die im Lied benannten in Deutschland lebenden »Ausländer«, »Kapitalisten«, »Arbeitslose« und »Asylanten« von der Rechtsprechung bereits als abgrenzbarer Teil der Bevölkerung angesehen werden. Drittens hat das Landgericht bei der Textpassage »zerschlagen wir sie vereint« »lediglich auf den Wortlaut abgestellt, den Gesamtzusammenhang etc. jedoch in keiner Weise berücksichtigt.«
Darüber hinaus habe das Landgericht außerdem keine umfassende Prüfung aller in Betracht kommender Straftatbestände vorgenommen, sondern sich auf eine Prüfung eines Teilaspekts der Volksverhetzung beschränkt: Das Aufstacheln zu Willkür oder Gewaltmaßnahmen. Eine ebenfalls in Betracht kommende Strafbarkeit wegen eines Aufrufes zum Hass oder einer Verletzung der Menschenwürde durch die Bezeichnung »Mob aus dem Orient« wurde mit dem Landgerichtsurteil nicht geprüft.
Ebenso wenig hatte sich Richter Krause offenbar damit befasst, dass der Tonträger »Sieben auf einen Streich« der Gruppe »Abtrimo« seit 2013 als jugendgefährdende Schrift indiziert ist und somit einem absoluten Verbreitungsverbot unterliegt. Auch das wird ein neuer Anlauf am Landgericht Memmingen nachholen müssen.
»Terrormachine« mit Kampflied der SA
Auch die Auffassung, Benjamin Einsiedler dürfe mit dem Titel »Die Fahne hoch« eine Parole aus einem Kampflied der SA ungestraft verbreiten, hatte in München keinen Bestand. Das Lied vertrieb der Grönenbacher Plattenproduzent auf der CD »German-British Terrormachine Vol.2« von »Blitzkrieg/Warhammer« an eine Vielzahl von Personen.
Das Landgericht vertritt in seinem Urteil die Auffassung, dass die mehrfache Verwendung der Worte »Die Fahne hoch« nicht dazu führt, dass das Lied dem Horst-Wessel-Lied, das auch nach Ansicht des Landgerichts als Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation anzusehen ist, zum Verwechseln ähnlich wird – und verneint die Strafbarkeit. Wieder widerspricht München: Das Landgericht verkenne, dass es auf eine Verwechselbarkeit nicht ankommt, weil durch die Verwendung der Wortfolge »Die Fahne hoch« das als Kennzeichen des NS-Regimes anzusehende Horst-Wessel-Lied selbst verwendet wurde.
Die Worte »Die Fahne hoch«, die hier als Liedtitel und Refrain verwendet werden, sind identisch mit dem Titel des sogenannten Horst-Wessel-Liedes, welches als Kampflied der SA entstanden war und im späteren Verlauf als parteiamtliche Hymne der NSDAP diente, die sowohl bei Parteiveranstaltungen wie auch bei öffentlichen Feierlichkeiten nach der deutschen Nationalhymne gesungen wurde. Die ersten Worte des Liedes »Marschiert, marschiert« erinnern die Revisionsrichter zudem an die zweite Liedzeile des Horst-Wessels-Liedes und erzeugen das geistige Bild marschierenden Militärs. Der Bandname »Blitzkrieg«, ein Begriff, der allgemein mit dem Polenfeldzug 1939 assoziiert wird, stelle die Wortfolge »Die Fahne hoch« zusätzlich in Bezug zur Zeit des Nationalsozialismus, der durch im übrigen Text enthaltene Begriffe wie »Stolz«, »marschieren«, und »stark wie deutsches Eichenholz« noch verstärkt werde. Die Gesamtschau dieser Merkmale schließe einen neutralen Kontext im vorliegenden Fall aus, sodass objektiv die Verwendung eines Kennzeichens einer verfassungswidrigen Organisation vorliege.
»Germanisches Erbgut«: Für Memminger Gericht keine Rassenideologie
Auch der Freispruch vom Vorwurf der Verbreitung schwer jugendgefährdender Schriften durch den Verkauf der CD »Tätervolk Geschichte« der Gruppe »Nordfront«, auf der sich das Lied »Herzen wie Erz« befindet, scheitert an dem Münchner Strafsenat.
In diesem Punkt sei das Urteil »rechtsfehlerhaft, weil das Landgericht zwar erkannt hat, dass der Sinn des Liedtextes – wie schon beim Lied ›Sturm über Europa‹ – durch Auslegung zu ermitteln ist, jedoch auch in diesem Fall die Auslegung lückenhaft ist und gegen allgemeine Auslegungsregeln verstößt.«
So schreibt das Landgericht Memmingen zur Begründung seines Urteils: »Insbesondere sind dem Text keine Formulierungen im Hinblick auf einen Aufruf zur Gewalt, der Verächtlichmachung und Herabwürdigung anderer oder der Aufstachelung zum Hass zu entnehmen. Soweit das Amtsgericht meint, dass mit Formulierungen ›aus unserem Volk wird ein Vielvölkerbrei… Germanisches Erbgut wird dauerhaft zerstört, denn in unserem Erbe liegt ihre größte Gefahr, wenn wir uns unserer Wurzeln besinnen ist es das Ende der One-World-Mafia‹ die rassische Überlegenheit der Germanen hervorgehe, ist dies dem Text nicht, jedenfalls nicht sicher, zu entnehmen. Aus dem Gesamtzusammenhang ist eine dahingehende Interpretation, dass der Text nicht Rassenideologie des verbrecherischen Naziregimes verherrlicht, der in den Nürnberger Gesetzen sogar eine Legalform gegeben worden war«, urteilte das Landgericht über das Lied einer der neben »Stahlgewitter« bekanntesten niedersächsischen Neonazibands. Vielmehr stelle sich der Text nach Auffassung der Memminger Strafkammer als Meinungsäußerung dar und sei so zu interpretieren, dass »eine ›homogene Gemeinschaft‹ vorzugswürdig und eine ›Multi-Kulti-Gesellschaft‹ in Deutschland abzulehnen sei.«
Auch diese Begründung konnte in München »keinen Bestand haben«. Das neue Tatgericht werde nun in Memmingen auch die Begleitumstände wie den Namen der Band, ihr sonstiges Schaffen oder den Titel des Tonträgers in die kommende Bewertung einbeziehen müssen. Die für den Angeklagten günstigste Interpretationsmöglichkeit anzunehmen reiche nicht, so die Münchner Richter. Zudem habe das Landgericht dieses Mal zu beachten, dass der im Mai 2014 bei Benjamin Einsiedler gefundene Tonträger bereits im September 2012 von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert wurde.
Pflichtlied der Hitler-Jugend in Memmingen kein NS-Kennzeichen?
Den Freispruch im Zusammenhang mit der CD »Unplugged« der Gruppe »Hauptkampflinie (HKL)«, auf der sich das Lied »Ein junges Volk steht auf« befindet, kassierte München ebenfalls. Das Landgericht hatte den Freispruch darauf gestützt, dass »mangels des erforderlichen ausreichenden Nachweises einer vorsätzlichen Begehungsweise im Hinblick auf den verurteilten Tatbestand der Volksverhetzung [eine Verurteilung] nicht möglich [ist].«
Dieses Urteil des Landgerichts »war schon deshalb aufzuheben, weil nicht deutlich wird, welche Straftatbestände geprüft wurden. Ohne jegliche Systematik, Subsumtion und Prüfungsdarlegung wird eine Strafbarkeit wegen Volksverhetzung abgelehnt«, kritisieren die Münchner Richter. Auch den formalen Anforderungen der Strafprozessordnung werde dieses Urteil nicht gerecht. So muss auch hier der Vorwurf der Volksverhetzung ab Freitag erneut in Memmingen verhandelt werden.
Das Landgericht verneinte die Strafbarkeit, da dem Angeklagten die notwendige Sachkunde fehle, um zu entscheiden, ob das Lied, das keinen spezifisch nationalsozialistischen Inhalt habe, als Kennzeichen des nationalsozialistischen Unrechtsstaates anzusehen sei. Zudem habe er dem von ihm in Auftrag gegebenen Gutachten einer Rechtsanwältin vertrauen dürfen. Richter Krause, der »Ein junges Volk steht auf« demnach offenbar nicht für ein Kennzeichen des nationalsozialistischen Unrechtsstaates hält, sagte in der mündlichen Urteilsbegründung, dass das von einem führenden Funktionär der Hitler-Jugend (HJ) geschriebene Original zwar im Nationalsozialismus zum »Pflichtliederkanon« gehört habe und auf zentralen Parteiveranstaltungen gesungen wurde. Für Laien sei es aber nicht als verbotenes Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation zu erkennen.
Deshalb sei das Gesetz, das die Verwendung solcher Kennzeichen unter Strafe stellt, selbst »problematisch«, so der Richter – wieder ganz im Sinne von Rechtsanwalt Alexander Heinig, der seine Mandanten lieber nicht durch die Straftatbestände der Volksverhetzung und der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen bedroht sähe. Seiner Karriere als Rechtsanwalt gingen Auftritte als Rechtsrocker voraus. Im Umfeld der militanten Neonazi-Szene um Blood&Honour stand Alexander Heinig mit »Ultima Ratio« auf der Bühne, deren Platten bis heute von Heinigs Mandant Benjamin Einsiedler vertrieben werden.
Memmingen hätte nicht auf Grund bloßer Behauptungen des Angeklagten, für die es keine tatsächlichen Anhaltspunkte gäbe, freisprechen dürfen, kritisieren die Münchner Richter scharf. Das neue Tatgericht werde anerkennen müssen, dass Einsiedler als langjähriger Neonazi-Unternehmer »gerade kein Laie ist und ihn als Gewerbetreibenden erhöhte Sorgfaltspflichten treffen.« Das neue Tatgericht werde außerdem prüfen müssen, welchen Inhalt und welche Qualität das vom Angeklagten eingeholte Rechtsgutachten auch mit Blick auf die Person und die Hauptgeschäftstätigkeit der das Gutachten erstattenden Rechtsanwältin Gisa Pahl hat und ob es sich um ein Gefälligkeitsgutachten handelte. Das Deutsche Rechtsbüro (DRB) der Hamburger Rechtsanwältin Gisa Pahl soll, wie wir berichteten, zu den Empfängern von Spendenbriefen des NSU gehören. In dem Gutachten soll Pahl etwa juristische Unbedenklichkeit bescheinigt und Vorschläge zur Entschärfung kritischer Textstellen gemacht haben.
Ab Freitag wird sich das Landgericht nicht nur mit diesem Gutachten beschäftigen müssen. Nach Weisung aus München wird ein neuer Richter nun auch nicht um die Auseinandersetzung herum kommen, ob der fragliche Text aus der HJ-Hymne wie das Horst-Wessel-Lied ein Kennzeichen nationalsozialistischer Organisationen darstellt.
»Nxxxx umlegen und die Türken«?
In zwei Punkten hatte die Revision der Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch von Benjamin Einsiedler keinen Erfolg. Zwar hatte die Polizei bei Einsiedler einen verbotenen Elektroschocker gefunden. Es konnte jedoch nicht geklärt werden, ob Einsiedler diesen bereits vor dessen Erfassung durch das Verbot erwarb. Bezüglich der CD »Live 95« der »Boots Brothers« konnte das Landgericht Memmingen wegen der schweren Verständlichkeit einer Passage nicht eindeutig feststellen, dass die Worte »die Nxxxx umlegen und die Türken« gesungen werden. An diese Feststellung war der Münchner Strafsenat gebunden, da die Staatsanwaltschaft sich nicht gegen sie verwahrte und keine Begründung zu ihrer Revision in diesem Punkt lieferte.
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