Ungewöhnliche Szenen am Landgericht Memmingen: Drinnen verließt ein Richter die Songtexte übler Nazimusik und Kundenlisten eines Szenehändlers. Draußen demonstrieren Nazigegner. Seit gestern muss sich der Betreiber von Oldschool Records erneut für die Verbreitung extrem rechter Hassgesänge verantworten.
»Es gibt kein Recht auf Nazipropaganda!« Diese Parole schallte Dienstag in der früh am Hallhof dem Betreiber eines Unterallgäuer Unternehmens entgegen, als er vor dem Landgericht Memmingen zu seinem Prozess erschien. Antifaschisten hatten sich vor dem Gebäude versammelt, um gegen sein Plattenlabel Oldschool Records zu protestieren. Die Nazigegner skandierten Parolen, warben für eine Demonstration am Samstag und hielten dem Neonazi und seinem Rechtsanwalt ein Banner »gegen rechte Gewalt« entgegen.
Oldschool Records verbreitet massenhaft rechtsradikale Propaganda
Auch die Memminger Staatsanwaltschaft wirft Benjamin Einsiedler vor, dass er als Betreiber von Oldschool Records massenhaft rechtsradikale Propaganda verbreitet habe. Das Amtsgericht Memmingen verurteilte den Unterallgäuer deshalb bereits im Dezember 2016 zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen. Die Staatsanwaltschaft plädierte auf eine etwa doppelt so hohe Strafe und verwies auf ein Ereignis, das kurz zuvor in Sömmerda stattfand und durch die Medien ging. In der Stadt in Thüringen hatte sich der Polizei zufolge eine Hetzjagd auf Asylbewerber ereignet. Musik wie die vom Angeklagten verbreitete sei gefährlich, weil sie zu solchen Taten anstifte.
Der Unterallgäuer ging gegen das Urteil in Berufung. Deshalb muss sich der Rechtsrock-Unternehmer, der als Führungsfigur der örtlichen Skinheadkameradschaft Voice of Anger gilt, jetzt allerdings erneut vor Gericht verantworten.
Das ist dem Angeklagten sichtlich unangenehm. Er scheut sich vor der öffentliche Aufmerksamkeit, die seine Aktivitäten nun erhalten. Der Plattenproduzent hält sich einen Umschlag vor das Gesicht, um nicht photographiert zu werden. Dem Fernsehen des Bayerischen Rundfunk, der über den Prozess berichtet, möchte er kein Interview geben. Seinen Stuhl dreht Einsiedler so, dass das Publikum im Saal sein Gesicht nicht sehen kann.
Nazitexte und Adressen verlesen
»Die faschistischen Vier«, »Gigi und die braunen Stadtmusikanten«, »Gegenschlag«, »Blitzkrieg«, »Stahlgewitter«, … Schon die Namen der rechten Musikgruppen für deren Verbreitung Einsiedler angeklagt ist, sprechen eine deutliche Sprache. Eine gute Stunde lang verlaß der vorsitzende Richter zum Prozessauftakt am Dienstag die ausführliche Urteilsbegründung des Amtsgerichts. Es fielen Titel wie »Schmuddelpunk«, »Die Fahne hoch« oder »Terrormachine«.
Teils musste der Richter die Texte der Stücke in Gänze verlesen. Die Sänger träumen sich etwa »Heim ins Reich« oder beschreiben eine »Sternfahrt durch unser schönes Reich« als »lustige Zugfahrt«. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft spielt dieses Lied auf die Deportation von Juden im Dritten Reich an, die Opfer der Shoa werden verhöhnt. Am Ende des Stücks heißt es: »Eisenbahnromantik macht frei«. Versteht man das Lied wie die Staatsanwaltschaft, handelt es sich dabei um eine unverhohlene Anlehnung an die Toraufschrift »Arbeit macht frei« an den Konzentrationslagern der Nazis.
Es ist nur eines von vielen an diesem Tag verlesenen Beispielen, die deutlich machen, welche Ideologie bis heute bei Oldschool Records aus Bad Grönenbach vertrieben wird. Auch die Liste der von der Polizei ermittelten Kunden ist lang. Akribisch verlaß der vorsitzende Richter die Namen und Adressen aus ganz Europa.
Die Kunden von Oldschool Records werden sich bei ihrem Szenehänder bedanken: In öffentlicher Hauptverhandlung verließt das Landgericht #Memmingen endlose Listen ihrer Namen und Adressen.
— Sebastian Lipp (@SebastianLipp) April 17, 2018
Gewaltaufrufe und verbotene Symbole
Nicht nur der Angeklagte, auch die Staatsanwaltschaft ist unzufrieden mit dem Urteil des Amtsgerichts. Mit vielen der von Benjamin Einsiedler vertriebenen Tonträgern werde laut der Anklageschrift der Behörde das Naziregime glorifiziert, deren Verbrechen geleugnet oder deren Opfer verhöhnt. Es werde zu Gewalt, Mord oder staatlichen Willkürmaßnahmen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen aufgerufen. Etwa gegen Juden, Schwule, Kommunisten oder vermeintliche Nicht-Deutsche.
Auch verbotene Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen wie die des NS-Regimes seien verbreitet worden. Die Anklagebehörde fasste hunderte von versandten Tonträgern in 88 Anklagepunkten zusammen und ergänzte ein waffenrechtliches Delikt. Davon führten nur sieben zu einer Verurteilung und zwölf zu einem Freispruch. Die Staatsanwaltschaft ging zum Nachteil des Angeklagten in Berufung, weil die Freisprüche nicht der Rechtslage entsprächen und die Strafhöhe nicht nach ihrer Vorstellung war.
69 Taten übergangen
Mit 69 der angeklagten Taten hatte sich das Amtsgericht nicht im Detail beschäftigt und das Verfahren diesbezüglich auf Antrag der Staatsanwaltschaft eingestellt. In einigen Fällen sei schon die Polizei daran gescheitert, die Hassgesänge akustisch verstehen zu können, hieß es vor dem Amtsgericht. In vielen Fällen hatte aber die Anklagebehörde der fundierten Vorbereitung des Verteidigers wenig entgegen zu setzen.
Er legte Urteile aus Verfahren gegen andere Neonazis vor und präsentierte Dokumente, die er als Rechtsgutachten bezeichnete. Diese sollen erklären, weshalb die seinem Mandanten vorgeworfenen Taten nicht strafbar seien. Zu den eingestellten Taten erfolgte keine Bewertung einer möglichen Strafbarkeit durch das Gericht.
Ex-Rechtsrocker als Anwalt
Mit Rechtsrock kennt Alexander Heinig sich aus. Er gilt als Szeneanwalt und stand früher selbst auf der Bühne. Auf einem alten Video sieht man ihn von einer solchen herabrufen: »Nigger, Nigger, out, out …«, berichtet der Journalist Thomas Kuban, der sich über Jahre in der Szene bewegte und heimlich Konzerte auf Video aufzeichnete. Platten von Heinigs inaktiver Band Ultima Ratio werden bis heute von Benjamin Einsiedler über Oldschool Records vertrieben.
Am Dienstag kündigte Heinig vor dem Landgericht Memmingen weitere Rechtsgutachten an. Erstellt habe sie Gisa Pahl. Die Hamburger Juristin stellt sich auf ihrer Homepage als »Ihre politisch unkorrekte Rechtsanwältin« vor. Sie arbeitete in der Kanzlei des Neonazis Jürgen Rieger, war beim Bund Heimattreuer Jugend (BHJ) aktiv und gehörte den Republikanern (REP) an.
Pahl gilt dem Hamburger Verfassungsschutz als Initiatorin und Hauptverantwortliche des Deutschen Rechtsbüro (DRB), das juristische Dienstleistungen für die rechtsradikale Szene organisiert. Das Projekt soll Geld des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) erhalten haben. Im Schutt des letzten Verstecks von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe in Zwickau fanden Ermittler laut einem Bericht des Spiegel eine Liste mit zehn extrem rechten Organisationen, denen die Terrorgruppe Geld aus dem Untergrund habe zukommen lassen. Auf der Liste sei auch Pahl’s rechtes Rechtshilfebüro verzeichnet.
Prozess vorzeitig vertagt
Eigentlich wollte der vorsitzende Richter noch am ersten Prozesstag mit der Zeugenvernehmung beginnen. Ein Staatsschutzbeamter war bereits geladen, um nach der Mittagspause über seine Ermittlungen zu berichten. Allerdings behauptete Rechtsanwalt Alexander Heinig noch am Vormittag, dass auf zehn der beim Betreiber von Oldschool Records gefundenen Tonträger die Passagen nicht enthalten seien, die ihm die Staatsanwaltschaft vorwirft. Laut Heinig habe die Polizei eine andere Version desselben Tonträgers geprüft. Die Polizei solle das erneut nachprüfen.
Das könnte zum Problem werden. Allein die Akten des Gerichtsverfahrens sollen 30 Ordner umfassen. Als die Polizei 2014 die Geschäfts- und Privaträume von Einsiedler nach Beweismitteln für das Verfahren durchsuchte, stellten die Ermittler neben Waffen und einem umfangreichen Datenbestand 23.500 Tonträger mit 2.100 verschiedenen Werken sicher. Ein Teil davon wurde zurück gegeben.
Anderes blieb asserviert und lagere im Dachboden der Staatsanwaltschaft, wie der vorsitzende Richter in einem Telefonat mit dem zuständigen Ermittler erfahren habe. Für die Suche musste der Prozess gestern unterbrochen werden. Kommenden Dienstag um 9:30 soll der Prozess fortgesetzt werden. Unklar ist, ob es der bis zum Termin in einer Woche gelingt, die fraglichen Tonträger zu finden und erneut auszuwerten.
Wieder mal ein äußerst informativer, kurzweiliger Text, der ein hochspannendes Thema behandelt, das in der breiten Masse der Medien viel zu kurz kommt.
Vielen Dank für diesen so wichtigen Journalismus und euer Engagement!
Solidarische Grüße aus dem Norden ins Allgäu