In Kempten erinnern bereits 33 Stolpersteine an Opfer der Nazi-Herrschaft. Im Interview erzählen alte Hasen und Neu-Mitglieder der Stolperstein-Initiative, warum das noch lange nicht ausreicht.
Seit Jahren bemüht sich die Stolpersteininitiative Kempten um das Gedenken in der Stadt. Bislang konnte sie 33 Stolpersteine verlegen. Doch so langsam überaltert der Verein und ihm gehen die Mitglieder aus. Deshalb suchen die »alten Hasen« Martin Huss (77) und Dr. Dieter Weber (71) nach neuen, jungen Mitgliedern, die die Arbeit fortsetzen.
Warum das so wichtig ist und weshalb es die Neumitglieder Dr. Christiane Jansen (53) und Sebastian Lipp (33) genauso sehen, erklären die vier im Interview.
Martin Huss: »Wir müssen das Staffelholz rechtzeitig weitergeben können«
Warum braucht die Stolpersteininitiative neue Mitglieder?
Seit unserer Gründung 2009 sind einige Jahre ins Land gegangen. In der Zwischenzeit sind einige Gründungsmitglieder ausgeschieden und verstorben. Die verbliebenen werden nicht mehr lange in der Lage sein, die Aufgaben, die sich ihnen stellen, weiterhin zu meistern. Deshalb war und ist es weiterhin nötig, die Arbeit auf mehr und jüngere Schultern zu verteilen. Der Anfang ist uns im letzten Jahr mit einigen neuen Mitgliedern gelungen.
Ist mit der Verlegung von 33 Stolpersteinen in Kempten und Umgebung die Arbeit nicht weitgehend abgeschlossen? Welche Aufgaben stellen sich der Initiative in der Zukunft?
Zum einen sind für uns überraschend in der letzten Zeit eine ganze Reihe Namen neuer Opfer aufgetaucht, vor allem aus der Gruppe der Zwangsarbeiter und »Euthanasieopfer«. Diese Schicksale müssen historisch aufgearbeitet werden. Da kommt ein ganzer Berg Forschungsarbeit auf uns zu, bevor es zur Verlegung weiterer Stolpersteine kommen kann.
Zum anderen: Wir haben unsere Arbeit nie auf die Verlegung von Stolpersteinen beschränkt gesehen. Sie sind der materiell sichtbare Teil einer umfassenden Aufgabe, die Erinnerung an die Opfer NS-Terrorherrschaft wachzuhalten, geschichtliches Bewusstsein bei der jungen Generation zu wecken und aufrecht zu erhalten. Dafür hat in Kempten mit der Diskussion um belastete Straßennamen gerade eine spannende Zeit begonnen. »Unser« Dr. Dieter Weber ist Mitglied der Historikerkommission.
Welche konkreten Aufgaben sehen Sie auf den Verein zukommen, wo Sie weiterhin auf die Mitwirkung neuer, jüngerer Mitglieder angewiesen sind?
Hier fällt mir als erstes unsere mediale Präsenz ein. Wenn wir die jüngere Generation erreichen wollen, müssen wir neue Medien nutzen. Dr. Christiane Jansen baut gerade eine Hompage auf. Gedenkveranstaltungen müssen stärker medial beworben und dargestellt werden. Wir müssen verstärkt auf andere Organisationen wie Jugendverbände und Schulen zugehen. Die Kooperationen mit dem Stadtjugendring im letzten Herbst war ein guter Anfang.
Und wir Alten müssen an unsere Nachfolge denken. Die Aufgabe, die Erinnerung an die Vergangenheit wachzuhalten, um die Zukunft unserer Demokratie zu retten ist zu groß, um sie mit uns enden zu lassen. Wir müssen das Staffelholz rechtzeitig weitergeben können.
Dr. Jansen: »Damit sowas nie wieder passiert«
Was hat sie bewogen, Mitglied im Verein zu werden?
Da ich selbst in einem Haus wohne, in dem ein Mensch wohnte, an den jetzt ein Stolperstein erinnert (Willy Wirthgen), ist es Ehre und Pflicht zugleich diesen Verein zu unterstützen. Mit Willy Wirthgen verbindet mich nicht nur der ständige Kampf gegen den Faschismus sondern auch die gewerkschaftlichen Werte von Solidarität mit Menschen aller Herkunft und das Bemühen um mehr soziale Gerechtigkeit.
Warum braucht es aus Ihrer Sicht die Stolpersteine?
Stolpersteine begegneten mir und uns in immer mehr Städten und Gemeinden. Sie machen uns täglich das Ausmaß der Vernichtung von »ganz normalen Menschen« deutlich. Die Verfolgung und die Ermordung von Menschen hat im Faschismus nicht »irgendwo« stattgefunden, sondern mitten in der Bevölkerung. Das machen die Stolpersteine deutlich und sollten uns alle jeden Tag ermahnen, wachsam zu bleiben, damit so etwas nie wieder passiert.
Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrer Mitgliedschaft?
Die Initiative Stolpersteine in Kempten und Umgebung hat in den vergangenen Jahres bereits tolle Arbeit geleistet. Es wurde viel recherchiert und so konnten schon viele Stolpersteine verlegt werden. Aber es finden sich immer wieder neue Schicksale, an die erinnert werden muss. Und diese Arbeit möchte gern unterstützen.
Wo gibt es Ihrer Ansicht nach noch Luft nach oben in Sachen Gedenken in Kempten?
Es sollte zu jedem Stolperstein zum Beispiel eine Gedenktafel geben, damit Gäste und Kemptener:innen mehr über die ermordeten Menschen erfahren können. Sie sind schließlich ein Teil der Stadtgeschichte. Auf alternativen Stadtrundgängen kann über die Zeit des Faschismus informiert und anhand der Stolpersteine berichtet werden. Auch die Umbenennung von Straßen und Plätzen halte ich für wichtige Signale. Erinnerung sollte ein täglicher Teil unseres Lebens sein.
Wie begegnen Sie der gängigen Kritik an den Stolpersteinen, dass man auf NS-Opfern nicht mit seinen Füßen herumtreten sollte?
Warum sollte ich der Kritik begegnen? Allein die Tatsche, dass Menschen sich darüber (kritisch) unterhalten, trägt doch zum Ziel der Erinnerung bei. Erst wenn niemand mehr über die Ermordeten und die »richtige« Art des Gedenkens spricht, wurden diese Menschen wirklich vergessen.
Dr. Weber: »Zumindest die Namen müssen der Vergessenheit entrissen werden!«
Künftig wollen Sie ja auch die Häftlinge des KZ-Außenlagers Kempten mehr in den Fokus nehmen. Wie genau?
Wenn es betreffs der Häftlinge des KZ-Außenlagers Kempten im Sinne des Anliegens unseres Vereins Aufklärungsbedarf gibt, werden wir handeln. Gegenwärtig steht eher die zukünftige Verwendung der Allgäu-Halle als Erinnerungsort des KZ-Außenlagers in unserem Fokus – natürlich im gemeinsamen Handeln mit anderen, wie dem Heimatverein und dem Stadtheimatpfleger Tilman Ritter.
Mit den Häftlingen des KZ-Außenlagers Kempten hat sich Markus Naumann, Vorsitzender des Heimatvereins und der Kemptener Erinnerungskommission, als Regionalforscher schon seit Jahren intensiv beschäftigt. Zuletzt kam sein Buch unter dem Titel Souvenirs de captivité. Zeichnungen aus dem KZ-Außenlager Kempten heraus. Es ist ein Beleg über die Verstrickung Kemptens in die nazifaschistische KZ-Lagerwelt in Gestalt der bildlichen Zeugnisse über das, was französische Häftlinge, zumeist Widerstandskämpfer, durchmachten.
Diese zeichnerischen »Erinnerungen an die Gefangenschaft« von Paul Wernet im KZ Kempten als Französischdolmetscher des Lagerleiters bis 1945, stellen einzigartige Belege im Gesamtspektrum der sogenannten KZ-Kunst dar, obwohl sie selbst künstlerisch von eher bescheidener Natur sind. Ich möchte das Buch den geschichtlich und Kunst interessierten Kemptenern empfehlen. Markus Naumann und ich haben diese einmaligen Zeichenhefte aus Frankreich nach Kempten holen können. Für uns war das ein großer Moment unseres Forscherlebens, als Paul Wernet sie uns 2012 in die Hände legte. Dann dauerte es zwar noch ein paar Jahre, bis Markus Naumann sie in Empfang nehmen konnte. Aber nun sind sie Teil der Kempten-Ausstellung im Zumsteinhaus.
Wo sehen Sie dann die Schwerpunkte Ihrer Arbeit als Verein und selbst als Forscher zum Thema Opfer der NS-Zeit?
Wir haben mehr als drei Dutzend Stolpersteine in Kempten und im Allgäu verlegt. Das betraf vorrangig die jüdischen Opfer, für deren Nachweise Dr. Peter Schindler († 2020) die Recherchearbeit leistete, während mir die Forschung über die Kemptener Widerstandskämpfer und andere politisch Verfolgte, über junge polnische Zwangsarbeiter und »Euthanasie«-Opfer oblag. Andere Mitglieder unseres Vereins recherchierten über eine Opferfamilie von Sinti und Roma. Danach gab es längere Zeit im Verein die Meinung, dass in Kempten und im Allgäu eher keine neuen Stolpersteine zu verlegen seien.
Heißt das, dass der Verein seine Aufgaben zu diesem Zeitpunkt als
erfüllt ansah?
Es gab einzelne solcher Gedankenspiele vor allem nach dem Ableben unserer beiden Mitbegründer Ibo und Hans-Georg Gauter († 2020 und 2021). Aber Martin Huss und ich waren davon überzeugt, dass wir nicht nur eine permanente Aufgabe – die Pflege der vorhandenen Steine – zu erfüllen haben, sondern dass wir unsere Recherchearbeit fortsetzen müssen, weil wir als Eingeweihte seit langem beispielsweise die Namen der Opfer auf den beiden Stelen beim jüdischen Friedhof (6 bzw. 19 Opfer) kannten. Die Hintergründe für ihren Tod sind noch weitgehend unbekannt, jedenfalls im öffentlichen Bewusstsein.
In dieser Zeit untersuchte ich außerdem ein Problem, dass mich schon immer emotional beschäftigte: Wir kennen seit langem die Opfer der Aktion T 4 (»Euthanasie«-Opfer), aber nicht die Täter, die beispielsweise Maria Grosselfinger und Max Schwer ermordeten. Diese Forschungslücke konnte ich nun schließen und die Ergebnisse in unsere Vereinsdokumentation einbringen.
Wie ging es mit den Zwangsarbeitern weiter? Sie sind da ja erneut fündig geworden, wie Ralf Lienert in seinem AZ-Artikel am 27. Januar 2022 schrieb: »Sie starben alle unter dem Fallbeil«.
Ralf Lienert begleitet unsere Arbeit seit Jahren. Deshalb sei ihm an dieser Stelle einmal gedankt. Monate vor diesem Artikel stieß ein Vereinsmitglied, das sich mit Recherchen über den Kemptener Blutrichter Michael Schwingenschlögl beschäftigte, auf Hinweise über Hinrichtungen von drei jungen Kemptener Zwangsarbeitern in München-Stadelheim. Zur gleichen Zeit erschien ein Artikel
von Hubert Seliger über Schwingenschlögl im Band 12 der THT-Reihe (Wolfgang Proske (Hrsg.): Täter – Helfer – Trittbrettfahrer. Band 12. NS-Belastete aus dem Allgäu. Kugelberg, Gerstetten 2021, S. 227–260) mit Verweisen auf weitere konkrete Fälle.
Darauf aufbauend konnte ich inzwischen mehr als ein Dutzend neuer Opfer für Kempten und das Allgäu recherchieren, die alle unter dem Fallbeil starben. Wir gehen gerade diesen Spuren nach und haben dazu auch Verbindungen zu potentiellen Partnern im Ost- und Unterallgäu aufgenommen. Anfragen sind auch an das Staatsarchiv München gerichtet. Nun müssen wir erst einmal diese Fälle durch weitere Forschungen und Dokumentationen zum Abschluss bringen, die Orte der Verlegung bestimmen und die Termine mit Gunter Demnig beraten. Das ist bei so vielen Opfern für uns Einzelkämpfer eine Herausforderung. Und dann gibt es noch einmal zwei ganz andere große »Baustellen«, wenn ich das mal so salopp sagen darf.
Das hört sich ebenfalls nach ziemlich gewaltiger Arbeit an. Worum
geht es?
Es geht um zwei Listen von vielen weiteren Opfern unter Kemptener Zwangsarbeitern sowie Dutzende Kemptener Opfer zum Komplex »Aktion T 4« (»Euthanasie«-Morde).
Wie stießen Sie auf diese Listen?
Auf die Liste mit zahlreichen weiteren Opfern unter Zwangsarbeitern stieß ich als Archivar im Stadtarchiv im Rahmen meiner Recherchearbeiten bei den Anfragen von Zwangsarbeitern [»Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« um 2002]. Die Liste betrifft eine große Zahl von Fällen, die meist auf das Jahr 1945, wenige auf 1944 zurückgehen, und tatsächlich viele Frauen und Kinder – ja auch Babys – ausweist. Das hat mich schon damals sehr erschüttert, aber ich fühlte mich da ziemlich überfordert. Und auch jetzt übersteigt der Komplex die Machbarkeit für uns als Verein Stolpersteine. Es ist hier kaum möglich, mittels Stolpersteinen der
Erinnerung gerecht zu werden. Einerseits weil kaum jeder einzelne Fall nachvollziehbar sein wird und andererseits die diese Opfer betreffenden Hintergründe wohl auch nicht mit unserer statutenmäßigen Vereinszielstellung in Einklang zu bringen sind.
Richtig ist, dass zumindest die Namen der Vergessenheit entrissen werden müssen!!! In welcher Form, darüber muss mit der Stadt beraten werden. Diesen Komplex können wir allein nicht stemmen.
Wie stießen Sie auf die Liste über die neuen »Euthanasie«-Opfer?
Hier war Markus Naumann wieder der Initiator. Er sandte mir diese Liste Anfang des Jahres zu, nachdem er sie herausgefiltert hatte aus dem Buch von Dietmar Schulze über Familien von »Euthanasie«-Opfern und ihren Schriftwechsel mit der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee [Dietmar Schulze: »Es wäre doch die verdammte
Pflicht und Schuldigkeit der Anstalt, die Angehörigen des Patienten zu verständigen…« Familien von »Euthanasie«-Opfern und ihr Schriftwechsel mit der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee (Impulse, Bd. 18), Irsee 2021] Diese aufwändige Forschungsarbeit ist von unserem Verein allein ebenfalls nicht zu bewältigen. Auch hier benötigen wir Unterstützung seitens der Stadt.
Mit Herrn Naumann und Herrn Ritter verbindet Sie als Vertreter des Vereins noch ein weiteres gemeinsames Anliegen. Sie drei sind Mitglieder in der Kommission für Erinnerungskultur, wie Ihr Vorsitzender schon ausführte.
Wie Martin Huss sagte, stellen wir uns als Verein auch dieser Aufgabe, weil unsere bisherige Arbeit geschätzt wird. Selbst habe ich über fragwürdige Straßennamen schon vor längerer Zeit geforscht. Meine Ergebnisse über »Kriterien und Maßstäbe für Straßennamen« stellte ich in einer Dokumentation dar. Ich habe sie den Stadtverantwortlichen zugearbeitet. Inhaltliche Antworten habe ich von der Stadt leider nie erhalten, außer als Einzelposition von wenigen Stadträten oder auch von Ralf Lienert.
Erwähnen möchte ich auch meine biografischen Dokumentationen über die Kemptener Frauenpersönlichkeiten Aurelia Deffner und Aloisia Eberle. Sie könnten würdige Alternativen zu den fragwürdigen bzw. untragbar erachteten Straßennamen sein, über die gerade in der Kommission beraten wird. In diese Kategorie gehören zweifellos Straßennamen für Personen wie die »Wehrwirtschaftsführer« Dornier, Messerschmitt und Porsche, über die ich inzwischen Quellen und Schriften ausgewertet habe.
Ich stimme den Autoren zu, die über sie u. a. in der THT-Reihe
schrieben. Sie verorten diese tief im NS-Verbrechenskomplex als Täter im Sinne von Hauptbeschuldigten der Kriegsrüstung und Zwangsarbeit. So hätte etwa Messerschmitt fast in Nürnberg mit Göring und Co. auf der Anklagebank gesessen. Das kann heute niemand mehr ignorieren. Solche Personen sind unwürdig im Sinne von Trägern von Straßennamen. Als Verein, der sich den Opfern verpflichtet fühlt, werden wir unsere Expertise in diesem Sinne in dieses Gremium einbringen.
Lipp: »Erinnerung in den öffentlichen Raum und damit in den Alltag verschieben«
Was hat sie bewogen, Mitglied im Verein zu werden?
Ich bin Journalist und beobachte für eine Reihe von Medienhäusern die Aktivitäten von Neonazis und anderen Rechtsradikalen in Süddeutschland. Von daher weiß ich, wie sehr die extreme Rechte schon immer darauf hinarbeitet, die Verbrechen Nazi-Deutschlands zu Relativieren und Vergessen zu machen. Denn wenn uns nicht mehr bewusst ist, wie gefährlich menschenverachtende Ideologien wie Antisemitismus in letzter Konsequenz sind, dann lassen wir uns leichter für sie gewinnen. Antisemitsmus hat wieder Hochkonjunktur. Massiv befeuert wird dieser aktuell unter anderem von den Protesten gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie.
Das gilt auch für das Allgäu und insbesondere für Kempten. Hiesige Querdenken-Anhänger*innen verbreiten etwa antisemitische Weltverschwörungsmythen als gängige Erklärungen für vermeintliche Missstände und konstruieren entsprechende Feindbilder. Zudem behaupten sie öffentlich, die Regierung stünde an der Schwelle zu einem faschistischen Regime vergleichbar mit dem des Nationalsozialismus, sie selbst wähnen sich bereits verfolgt »wie die Juden damals«. Diese Relativierung der Schoah kommt einer Verhöhnung der Opfer der nationalsozialistischen Terrorherrschaft gleich. Beides öffnet rechtsradikalen Agitatoren und ihren Ideologien Tür und Tor.
Nicht zuletzt, um diese Dynamik zu stoppen braucht es meiner Meinung nach eine lebendige Erinnerungskultur mehr denn je. Sie muss Hand in Hand gehen mit der Aufklärung über und der Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen Rechtsruck und der Bewegungen, die ihn tragen. Das ist eines der Ergebnisse einer gemeinsamen Vortragsveranstaltung zur Erinnerungskultur von Martin Huss und mir. Meine Mitgliedschaft ist eine Konsequenz dieser Überlegungen.
Warum braucht es aus Ihrer Sicht die Stolpersteine?
Über die Verbrechen des Nazi-Faschismus und die Biografien seiner Opfer wird geforscht und publiziert. Es gibt Gedenkstätten, Ausstellungen, Bücher, Filme, … Das alles ist richtig und wichtig, kann aber dem Holocaust als Zivilisationsbruch schlechthin nicht gerecht werden. Zudem erreichen wir damit vor allem das ohnehin schon interessierte Publikum.
Mit den Stolpersteinen können wir die Erinnerung in den öffentlichen Raum und damit in den Alltag verschieben. Damit geben wir jenen, die die Nazis teils beinahe gänzlich ausgelöscht hätten, eine Präsenz zurück, über die die Menschen gedanklich »stolpern« sollen. Sie machen das große abstrakte Verbrechen des Holocaust greifbar als ein Ereignis, das buchstäblich in jeder Straße stattgefunden hat. Wer das nicht begreifen möchte, muss ganz bewusst weg gucken – heute wie damals.
Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrer Mitgliedschaft?
Ich möchte, dass die Stolperstein-Initiative in Kempten ihre wichtige Arbeit fortsetzen und so weiter zu einer angemessenen Erinnerungskultur in Kempten beitragen kann.
Wo gibt es Ihrer Ansicht nach noch Luft nach oben in Sachen Gedenken in Kempten?
Da ist sicherlich vieles machbar. Angemessen wäre es etwa, wenn
bestimmte Straßennamen endlich gestrichen würden. Diese Art des
Erinnerns an die Verbrecher und Mittäter des Nationalsozialismus ist ein Hohn gegenüber den Opfern. Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, dass man hier so zaghaft agiert und ersteinmal eine Kommission eingerichtet werden soll, um die Zeit der Herrschaft der Nazis in Kempten zu erforschen. Das an sich ist nicht falsch, aber wo gesicherte Erkenntnisse vorliegen, müssen erinnerungspolitische Konsequenzen folgen. Dass dem offenbar keine größere Dringlichkeit zugemessen wird zeigt, wie wichtig diese erinnerungspolitische Arbeit offenbar noch immer ist.
Wie begegnen Sie der gängigen Kritik an den Stolpersteinen, dass man auf NS-Opfern nicht mit seinen Füßen herumtreten sollte?
Diese Assoziation ist natürlich nicht unbedingt fern liegend, aber man kann es eben auch ganz anders deuten – nämlich, dass die Menschen gedanklich über die Verbrechen ihrer Vorfahren und das, was sie ihren Opfern angetan haben »stolpern« sollen, dass diese sich in den Diskurs drängen.
Angemessen freilich wäre viel mehr. Zum Beispiel Gedenktafeln wie die für Willy Wirthgen in der Hohen Gasse, die mehr von der Geschichte und dem Wesen der Ermordeten vermitteln. Damit sind wir aber abhängig von der Einverständnis der Gebäudebesitzer*innen und die wollen das in der Regel nicht. Da die Gehwege meist öffentlicher Grund sind, muss die Stadt nur einmal grundsätzlich überzeugt werden. So gesehen sind die Stolpersteine ein Behelf, um überhaupt vor Ort an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern zu können. Auch das zeigt, wie viel Arbeit noch vor uns liegt.