»Vom Vorurteil zur Gewalt«: In seiner neuen Studie analysiert der renommierte Historiker Wolfgang Benz, dass die Wurzeln antisemitischen und rassistischen Terrors letztlich in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft liegen. Ein Aufruf an uns alle, sie eben dort zu bekämpfen. Eine ausführliche Version der zuerst beim Störungsmelder von Zeit online erscheinenen Rezension Der Hass aus unserer Mitte.
Charleston 2015, München 2016, Pittsburgh 2018, Christchurch, Kassel und Halle 2019, Hanau 2020: »Das Kalendarium der großen Hassverbrechen in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts verzeichnet – neben unzähligen Selbstmord-Attentaten durch dazu angestiftete Fanatiker islamistischer Observanz – seit dem Anschlag auf die Synagoge in Djerba (Tunesien) im Jahr 2002, der 21 Todesopfer forderte, eine in ihrer Dimension und Zielgerichtetheit steigende Zahl von terroristischen Angriffen auf Kirchen, Synagogen und Moscheen«, schreibt Wolfgang Benz in seiner am Montag erschienenen Studie Vom Vorurteil zur Gewalt.
Gemeinsam ist diesen Hassverbrechen laut Benz die vermeintliche Einzeltäter_innenschaft, der antisemitische, rassistische oder verwandte Ressentiments darstellende Vernichtungswunsch, die Öffentlichkeit heischende Botschaft an die Mehrheit, die durch ausführliche Begründung manifestiert wird. Diesem Schema folgte die Tat des Norwegers Breivik, auf die sich dann Nachfolger beriefen.
Entgegen der nach Gewaltexzessen schnell und gern verbreiteten Annahme, die Opfer seien durch provokatives Verhalten, durch ihre unterstellte mit der Lebensweise der Mehrheit nicht vereinbare Eigenart, aufgrund ihrer Religion, ihnen zugeschriebenen primitiven Lebensweise, der Verweigerung bestimmter Lebensart selbst an ihrem Unglück schuld, müsse die Ursachenforschung in der Mehrheitsgesellschaft beginnen, erklärt Benz. Als ehemaliger Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin beschäftigt er sich seit Jahrzehnten mit der Frage, wie aus Ressentiments Feindbilder werden, die individuell und kollektiv als Hass agiert werden, der sich zur Massengewalt, zum Krieg und zum Völkermord steigert. Der 1941 geborene Historiker überträgt die Ergebnisse seiner jahrzehntelangen Forschungsarbeit zum »ältesten und trotz der Menschheitskatastrophe des Holocaust immer noch virulenten Ressentiment der Judenfeindschaft« und will sie so »für eine übergreifende Ressentimentforschung nutzbar machen, die Antiziganismus, Muslimfeindschaft, Homophobie und andere Ausgrenzungen von Minderheiten einschließt.« Dabei richtet sich sein neues Buch nicht nur an ein wissenschaftliches Fachpublikum. Im Gegenteil.
Der kurze Weg vom Vorurteil zur Gewalt
Rassismus, Antisemitismus und andere Arten gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit halten sich deshalb so hartnäckig, weil sie in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft verhaftet sind. Ausgangspunkt von Benz‘ Betrachtung sind gesellschaftliche Minderheiten betreffende Vorurteile. Deren Träger sind weite Teile der Gesellschaft, wie die sogenannten Mitte-Studien seit Jahrzehnten immer wieder belegen. Die Trägerschichten ausgrenzender menschenfeindlicher Einstellungen sind demnach »die besseren Stände, die mittleren und höheren Schichten, die Tugenden des Bürgers wie Toleranz und Solidarität zugunsten des eigenen Fortkommens oder im Interesse des Statuserhalts frohgemut den Abschied gegeben haben.« Denn sie plage zudem ein diffuses Gemenge von Unsicherheit und Angst, von Ratlosigkeit und Unverständnis gegenüber rasanten und komplexen Veränderungen der Welt. Diese Gemengelage bildet den Nährboden für rechte Demagogie, Hetze und Abneigung gegen die demokratische Verfasstheit der Gesellschaft und wird von Ideologen dankbar aufgenommen und »zum Hass stimuliert. Anlass, nicht Ursache, bilden die Opfer, die als ›Fremde‹ stigmatisiert« zum Feindbild würden.
Das Ergebnis sei die Wiederholung dessen was in Hoyerswerda und Rostock begann, so Benz: »Als seien sie persönlich bedrängt, als würden sie individuell zur Kasse gebeten, als gäbe es eine fundamentale Bedrohung der Wohlstandsgesellschaft, randalierten Bürger nächtelang vor Flüchtlingsunterkünften, grölten ausländerfeindliche Parolen, stießen Morddrohungen aus, übten Gewalt.« So sei Brandstiftung im Jahr 2015, als etwa 700 Wohnheime für Asylsuchende angezündet wurden, zum »Volkssport« ausgeartet. Die Täter kämen überwiegend aus der bürgerlichen Gesellschaft.
Die Politik indes habe versagt, weil sie das Gewaltpotential unterschätzte – und »glaubte, bedrückten Bürgern Verständnis entgegenbringen zu müssen.« Stattdessen, so könnte man folgern, wäre die Ethnisierung sozialer Probleme durch ihre Analyse und Politisierung zurückzuweisen und solidarisch zu lösen, statt ausgrenzend auszuagieren. Doch die Angst vor einer vermeintlichen Überfremdung sieht Benz heute weiter verbreitet denn je: »Die Europäische Union verteidigt die Mittelmeerküsten mit größter Anstrengung gegen Migranten aus Afrika. Österreich fürchtete die Öffnung der Grenzen, als die EU sich nach Osten erweiterte. Nicht anders war es an der Oder, wo Deutsche den Ansturm »krimineller Polen« erwarteten, als die Grenzkontrollen fielen. Aufgerüstet wurde an der Grenze Polens zur Ukraine und zu Weißrussland, wo derzeit das Abendland verteidigt wird.«
Die Abkehr von Realität und Vernunft
Ein kaum zu bezwingendes Problem identifiziert Benz zudem in einer stetig wachsenden Bereitschaft, Legenden und Gerüchten Glauben zu schenken – »jenseits aller Vernunft und im Rückfall in magisches Denken«. Eine ihm als Antisemitismusforscher vertraute Legende sind die Protokolle der Weisen von Zion, die seit 120 Jahren vermeintliche Weltverschwörungspläne »der Juden« belegen sollen. Zwar ist es keine Kunst, die Absurdität des seit 100 Jahren als frei erfunden entlarvten antisemitischen Pamphlets zu erkennen. Dennoch gelten die Protokolle als einflussreichstes antisemitisches Werk: »Die Absurdität des Verschwörungsmythos ist ja kein Einwand gegen, sondern ein Element ihrer Wirkung.« So stellte bereits Carl Schmitt, der Staatsrechtler, der Hitlers Diktatur theoretisch unterfütterte, fest, dass »keine noch so klare Gedankenführung […] gegen die Kraft echter mythischer Bilder« aufkomme. Angefangen bei den Nationalsozialisten über islamistische Agitatoren bis hin zu Amerikafeinden in Japan, die den Kapitalismus erklären wollten, wussten bereits viele Demagogen und Ideologen das mythische Bild vom Juden, der nach Weltherrschaft giert, zu nutzen. Das zeigt Benz an einer Reihe historischer Beispiele.
In vielerlei Hinsicht kann der Verschwörungsglaube um die vermeintliche jüdische Weltverschwörung als Protoyp für die Funktionsweise und Attraktivität von Verschwörungstheorien herangezogen werden. Solche Mythen ziehen »Naive und Verwirrte ebenso in ihren Bann wie Demagogen und Ideologen.« Denn: Sie schaffen Orientierung und brechen komplexe Sachverhalte auf einfache Erklärungen herunter. »Die Realität wird im Mythos durch das Symbol ersetzt. Damit ist er der Rationalität entrückt. Praktikabel sind Mythen als Elemente von Ideologie, das heißt Realität wird durch Glauben substituiert, Fakten werden zu Fiktionen transformiert«, erklärt Benz. Der Mythos gewinne durch »unablässiges Zitieren, durch Assoziation und Konnotation […] scheinbar Realität. Die Imagination wird schließlich als wirkliches Geschehen wahrgenommen und anerkannt.«
Deshalb entzieht sich der Verschwörungsglaube, der in den vergangenen Monaten mit den Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie um ein vielfaches Populärer geworden ist, dem Zugang rationaler Argumentation. Gleiches gilt für den neuen rechtsterroristischen Tätertypus, der in den vergangenen Jahren aufkam. Das analysiert Wolfang Benz an vielen der Taten und ihren Tätern im Detail. Deren Radikalisierung erfolge »zunehmend im hermetischen Raum individuellen Konsums sozialer Medien.« In den Echokammern verschwörungstheoretischer Welterklärung saugen sie die Hassbotschaften der Ideologen auf – und kaum davon zu trennen auch den Auftrag zur Gewalt. Ohne diese Dynamik der dort verbreiteten »Mordhetze« wären die jüngsten Terroranschläge gegen Kirchen, Synagogen oder Moscheen für Benz kaum vorstellbar. Insofern gäbe es keine »Einzeltäter, die isoliert von aller Welt wüten«. Damit trügen die Ideologen und Scharfmacher einen erheblichen Teil der Verantwortung für diese Verbrechen. Auch wenn sie im Dunkel blieben, ihre Hände in Unschuld wüschen oder die Tat verurteilen. Das gelte auch und gerade für die AfD.
Was tun?!
Es gibt also, resümiert Wolfgang Benz, keine Einzeltäter_innen. Gleichzeitig könne man nicht einfach gegen irgendwelche Drahtzieher vorgehen, die den konkreten Auftrag zu solch schrecklichen Terrorakten erteilen. Es sind die Ressentiments, »vom stillen Vorbehalt bis zum flammenden Hass«, die zum »Bodensatz der Gesellschaft gehören«. Werden sie ideologisch aufgeladen, entladen sie sich zunehmend durch Gewalt. Und dagegen helfe weder mehr Geschichtsunterricht noch verordneter Gedenkstättenbesuch. Die Forderungen, das Übel dergestalt zu bekämpfen, sind für Benz »lediglich Chiffren der Hilflosigkeit.«
Was also tun? Das einzige Mittel sieht der Historiker in »Aufklärung, Bildung, Erziehung zur Demokratie und Bestärkung in der so gewonnenen Haltung. Das ist ein mühsamer Weg, ein dauernder Auftrag, der langen Atem und Stetigkeit von allen Beteiligten verlangt« – sowie unbedingte Solidarität und Empathie mit den Betroffenen, möchte man ergänzen. Getrieben von einer fundierten Analyse der zunehmend mörderisch ausagierten dumpf-wahnhaften Reflexe auf ein obskures Geraune aus dem Internet, ist Vom Vorurteil zur Gewalt ein flammender Appell, sich diesem Auftrag zu verpflichten. Folgen wir ihm lieber heute als morgen!
Wolfgang Benz:
Vom Vorurteil zur Gewalt. Politische und soziale Feindbilder in Geschichte und Gegenwart
Verlag Herder 2020, 480 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag:
ISBN 978-3-451-38596-4, 26 Euro
Als E-Book:
ISBN 978-3-451-82121-9, 20 Euro
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