»Die Kinder von Auschwitz singen so laut« ist ein erschütterndes Zeugnis des erschütterten Lebens der Sintiza Martha Guttenberger aus dem Ravensburger Ummenwinkel.
Martha Guttenberger wurde 1921 in Önsbach/Achern in einem Wohnwagen geboren. Ihre musikalische Familie war in der warmen Jahreszeit damals immer »auf der Reis’« und ging damit ihren ambulanten Gewerben nach. Doch dann, 1933, begann »die schlechte Zeit«, wie es in der Familie (in diesem Falle sensibel, nicht verharmlosend!) heißt. Martha Guttenberger war 21 Jahre alt, als Stuttgarter und Karlsruher Kripo und Mosbacher Polizisten sie mit ihrem dreijährigen Josefle von Dallau über Mosbach im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau einlieferten.
Dort wurde sie von der SS unter anderem im Waisenblock eingesetzt, in dem Sintikinder und Romakinder unter schlimmsten Bedingungen litten, massenhaft umkamen, letztlich ermordet wurden. Es folgten die KZs Ravensbrück, Schlieben und Altenburg.
Weit mehr als eine Biografie
Martha Guttenberger wollte, dass das ihr und ihren Lieben Widerfahrene nach ihrem Tod bekannt wird. Das hat nun ihre Schwiegertochter Magdalena Guttenberger, die ab 1972 die Erzählungen von Martha Guttenberger notierte, mit der Veröffentlichung des vorliegenden Buches »Die Kinder von Auschwitz singen so laut!« ermöglicht. Ihr Co-Autor Manuel Werner hielt hierzu weitere Gespräche fest, recherchierte umfangreiches Hintergrundwissen und arbeitete viele weit über eine bloße Biografie hinausgehende Aspekte ein. So werden beispielsweise Sprachformen der Familie der Begrifflichkeit der Verfolger gegenübergestellt.
Auch Ummenwinkel kommt in diesem Buch zur Sprache, als der soziale Raum, in dem Martha Guttenbergers Familie mit anderen Sintifamilien zusammenlebte und sich mit den Folgen der NS-Verfolgung, unheilvollen Kontinuitäten und nicht enden wollendem Antiziganismus auseinandersetzen musste.
Magdalena Guttenberger und Manuel Werner lassen in dem Buch auf 412 großformatigen Seiten und in 160 Abbildungen ein vielschichtiges Lebenspanorama aus Erinnerungen und mündlicher Überlieferung aufleben. Bei den Tätern nennen sie Ross und Reiter. Zur Qualität des Buches gehört neben einer reflektierten Bildauswahl die Verwendung der authentischen direkten Rede wo immer möglich. Die ebenfalls quellenbasierte Erläuterung der sozialen, historischen, politischen und familiären Hintergründe erfolgt ausführlich und zielt auf das Reflexionsvermögen der Lesenden. Es zeigt hautnah und in erschütternder Tiefe, wie wirkmächtig der Antiziganismus bereits vor der Machtübergabe an die Nazis gewesen und es bis heute ist.
Befreiung aus dem Konzentrations- zurück ins ehemalige Zwangslager
Martha Guttenberger überlebte wie sie selbst sagt »die Hölle« von Auschwitz. Doch die Erlebnisse in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern verfolgten sie. »In mir ist Angst, die nicht weg geht! Die Angst ist immer da, geht nicht weg. Ich habe mehr Tote gesehen, wie du Haare auf dem Kopf hast«, erklärte sie einmal ihrer Schwiegertochter im Rahmen ihrer vielen Gespräche. Bis an ihr Lebensende kamen nach Erzählungen von Hinterbliebenen nachts immer »die Kinder von Auschwitz zu ihr« und sie schrak in Panik aus Alpträumen auf. Doch nicht nur die Erinnerungen verfolgten sie. Bis zuletzt musste Martha Guttenberger in Angst vor den Täter*innen und ihrem Antiziganismus leben. Ihr Alptraum ging nie zu Ende.
Nach ihrer Befreiung musste Martha Guttenberger weitgehend zu Fuß den bis zu 500 Kilometer langen Marsch zurück in ihre Heimat durch das Land der Mörder antreten – und bei diesen um Obdach, Essen und Gnade betteln. Dabei musste sie offenbar auch Frontabschnitte passieren, an denen noch Gefechte tobten. Danach lebte sie ab 1945 jahrzehntelang mit ihrer Familie wieder in zwei engen Zimmern einer Baracke des vormaligen Ravensburger Zwangslagers »im hintersten Ummenwinkel«. Für die dortigen Wohnverhältnisse, die im »Dritten Reich« noch als für »Volksgenossen« unzumutbar galten, musste sie Pacht an die Stadt Ravensburg entrichten.
Nach 1945 weiter den Täter*innen ausgeliefert
Die Nazi-Täter*innen indes blieben in Amt und Würden. Die Ravensburger Verwaltung war, wie der vorliegende Band einen Historiker zitiert, »nicht bereit«, auf bestimmtes Fachpersonal zu verzichten. Auch bei der Kriminalpolizei wollte man die Nazis behalten, um »die Kontinuität der polizeilichen Arbeit zu gewährleisten«. Diese Kontinuität führte etwa dazu, dass eine ebenfalls Auschwitz-Überlebende eine gegen sie gerichtete folgenschwere und stark belastende Gewalttat 1945 gegenüber einem Polizisten zur Anzeige bringen musste, der persönlich an dem Versuch der Vernichtung der europäischen Sinti und Roma beteiligt gewesen ist. »Die Erklärungen der Frau sind mit Vorsicht aufzunehmen«, notierte ausgerechnet jener Polizist, der zur Wachmannschaft des städtischen »Zigeunerlagers« in Ummenwinkel gehörte und bei der Selektion zur Einweisung nach Auschwitz-Birkenau in diesem Lager und an der nachfolgenden Deportation beteiligt war.
Und das ist nur ein Beispiel von vielen, wie sich die Überlebenden auch in Ravensburg unmittelbar nach der Befreiung wieder mit ihren Peinigern und deren Ideologie konfrontiert sahen. Wie wir dank der Recherche von Magdalena Guttenberger und Manuel Werner erfahren, kursierten bis in die 70er Jahre hinein rund 20.000 unterschlagene Aktenbände der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« (RHF) in akademischen und behördlichen Kreisen und wurden dort für die Fortführung rassistischer Polizeiarbeit und »Wissenschaft« verwendet. Indes blieb Überlebenden, die zeitgleich jahrzehntelang versuchten, der antiziganistischen Mehrheitsgesellschaft Anerkennung und Entschädigung abzuringen, der Zugriff auf diese sogenannten »Z…akten« der Nazis verwehrt.
Zwischen Anerkennung und Ausgrenzung in der antiziganistischen Mehrheitsgesellschaft
Erst 1982 erkannte der damalige Bundeskanzhler Helmut Schmidt den Völkermord an den Roma und Sinti politisch an, Weitere zehn Jahre dauerte es, bis der Ravensburger Gesellschaft ein Gedenken an die Verfolgung, Konzentration, Deportation und Vernichtung der örtlichen Sinti und Roma abgerungen werden konnte. Erst 1999 errichtete die Stadt ein Mahnmal an der Kirche St. Jodok in Ravensburg. Zu einem sicher erheblichen Teil ist das dem unermüdlichen Kampf von Magdalena Guttenberger um Erinnerung an das Leid ihrer Schwiegermutter »und der Ihren« zu verdanken.
An der Gedenkveranstaltung zur Einweihung des Mahnmals wollte Martha Guttenberger zunächst nicht teilnehmen. Zeit ihres Lebens musste sich erfahren, dass der Antiziganismus keineswegs mit dem Nazi-Regime beseitigt wurde. Und so hatte sie »panische Angst«, auf der Veranstaltung einem Nazi zu begegnen, der sie ermorden wolle. Noch 2005, vier Jahre vor ihrem Tod musste Martha Guttenberger im rund zwei Kilometer von ihrem Zuhause entfernten Berg einen antiziganistischen Umzugswagen des Fasnetsumzugs ertragen, um den stereotyp gekleidete »Narren« tanzten. Eine Anzeige wegen Volksverhetzung stellte die Staatsanwaltschaft Ravensburg allerdings mangels Tatverdachts ein. Der Bürgermeister sagte später in einem TV-Interview: »Naja, also das ist ja Fasching, und, naja, so: Also da hat man sich wirklich, also bei Gott nichts gedacht, ist auch nicht so gemeint, und ist ja Fasching.«
»Das, was war, kommt wieder!«
CN Antiziganismus
CN Rassismus3️⃣ Christoph Maier (#noAfD-Landratskandidat #Dillingen und MdL) schürt rassistische Vorurteile über Sinti*zze und Rom*nja und Großfamilien instrumentalisiert eine Massenschlägerei und verknüpft das mit Flüchtlingen aus der #Ukraine unter die sich pic.twitter.com/1X6zVm2HFG
— Simon Veit (@Simmerl19) April 10, 2022
Den Fernsehbeitrag sah auch Martha Guttenberger selbst. Nach den Erinnerungen ihrer Schwiegertochter schaltete sie den Fernseher aus und sagte: »Ist es denn egal wie viele hier ermordet wurden? Ein Armutszeugnis für die Stadt Ravensburg! Passt auf euch gut auf! Das, was war, kommt wieder. Hoffentlich seid ihr besser als wir es waren. Rennt, aber bleibt nie stehen!« Darauf lachte Magdalena Guttenberger und erwiderte, dass soetwas nie wieder passieren werde. »Ihr werdet noch an meine Worte denken!«, antwortete die Auschwitz-Überlebende. Heute sieht Magdalena Guttenberger das tatsächlich so wie Martha. Denn auch sie habe in den vergangenen Jahren immer wieder erlebt, wie tief der Antiziganismus noch immer in der deutschen Mehrheitsgesellschaft verankert ist.
Laut Studien können sich beispielsweise über 60 Prozent der Menschen in Deutschland nicht vorstellen, Menschen mit Romnohintergrund als Nachbarn zu haben, obwohl sie nahezu nichts über die sie wissen. Dennoch glauben über 50 Prozent zu wissen, Roma und Sinti neigten zu Kriminalität und mehr als ein Drittel will sie aus den Innenstädten verbannt sehen. Zur Bundestagswahl 2013 plakatierte die NPD in der Region »Geld für die Oma statt für Sinti & Roma«. Erst im März 2020 kam es in der Nähe von Ulm zu einem antiziganistischen Brandanschlag auf drei Wohnwagen einer Zirkustruppe, zu der auch Sinti gehören. Im Februar letzten Jahres misshandelten Polizisten in Singen ein elfjähriges Kind, das sie zuvor antiziganistisch beleidigten und mit dem Tod bedrohten. Und erst vor rund einer Woche hetzte Christoph Maier, selbsternannter »Remigrationspolitischer Sprecher« der AfD-Fraktion im bayerischen Landtag und Kreisvorsitzender der AfD Memmingen/Unterallgäu gegen »Z… und Männer im wehrfähigen Alter«, die sich als Geflüchtete aus der Ukraine ausgäben.
»Wir sind der Dreck!«
Die Deutschen haben Martha Guttenbergers Leben derart erschüttert, dass sie auf ihrem 70. Geburtstag zum ersten Mal »nach Auschwitz« wieder tanzen konnte. Ihre Geschichte, wie sie Magdalena Guttenberger und Manuel Werner auf 412 reichlich bebilderten Seiten darstellen, macht annähernd nachvollziehbar, wie sich ein Leben unter Gadsche (Nicht-Rom*nja) nach dem Holocaust anfühlen muss.
Der Stuttgarter Sinto Peter Reinhardt dürfte das auf den Punkt bringen, wenn er sagt: »Meine Leut’ waren diesen Menschen immer noch ausgesetzt. Wir haben unsere Trauer allein leben müssen. Das jüdische Volk durfte laut trauern. Für uns gab es niemand. Wir haben allein trauern müssen.« Reinhardt erinnert sich, dass »die Alten« der Sinti auf die Frage, warum sie »nach Auschwitz« in Deutschland geblieben seien: »›weggehen? Ja, wohin denn? Für uns gibt es nirgends einen Platz.‹ Ihre Lebenserkenntnis war: ›Wir sind, egal wo, der Dreck!‹«
Magdalena Guttenberger, Manuel Werner: »Die Kinder von Auschwitz singen so laut!« Das erschütterte Leben der Sintiza Martha Guttenberger aus Ummenwinkel
Books on Demand, 2020
412 Seiten
als Taschenbuch: 28 Euro, ISBN: 978-3750470439; gebunden: 48 Euro, ISBN: 978-3750482173; EBook: 9,99 Euro