In Schwundgeld, Freiwirtschaft und Rassenwahn untersucht Peter Bierl den Sozialdarwinisten und rassistischen Eugeniker Silvio Gesell und seine Kapitalismuskritik von rechts. Eine Neuveröffentlichung einer gekürzten und überarbeiteten Buchbesprechung aus dem Jahre 2013 aus aktuellen Anlass.
Die gegenwärtigen krisenhaften Entwicklungen des Kapitalismus lassen viele Menschen nach Alternativen suchen. Manche wenden sich dazu nach innen und esoterischen Praktiken zu, andere sehen sich nach Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung um. Am Anfang dieser Suche steht oft offenbar keine adäquate Analyse der Verhältnisse und so verwundere es auch nicht, dass die gefundenen Lösungen am Problem vorbei gehen. Zwei Beispiele solcher Scheinlösungen sind an Silvio Gesells Ideen orientierte Regiogeld-Projekte und Tauschringe. Warum deren Ansätze aus ökonomischer Sicht unsinnig seien, legt der Journalist Peter Bierl im ersten Kapitel seines Bandes über Silvio Gesell’s Kapitalismuskritik von rechts ausführlich dar.
»Hochzucht der Menschheit«
Doch in Schwundgeld, Freiwirtschaft und Rassenwahn geht es um weit mehr als ökonomisch unsinnige Gedankenexperimente: Via Boden- und Geldreform wollte Silvio Gesell eine »Freiwirtschaft« genannte Wirtschaftsordnung aufbauen. Laut Bierl definierte Gesell »eine ›natürliche Wirtschaftsordnung‹ als Manchesterkapitalismus ohne Vorrechte und soziale Absicherung, in dem ökonomisch erfolgreiche Männer als Samenspender und Frauen als Gebährmaschinen fungieren. ›Minderwertige‹, deren schlechtere Erbmasse sich im ökonomischen Scheitern zeige, würden von Frauen verschmäht und ihre Zahl in den kommenden Generationen abnehmen. Die Degeneration wäre gestoppt und in eine ›Hochzucht der Menschheit‹ umgekehrt.«
Die »Ausmerze« der Verlierer sei ein natürlicher, geradezu gottgewollter Vorgang. Seine »Freiwirtschaft« beseitige entsprechende Hindernisse. Gesell selbst meint, dadurch »veredelt die Münzreform auch die Race, indem sie die Mißgeburten des Geistes und des Körpers an der Fortpflanzung hindert. Die Münzreform läßt jeder Frau freien, selbstständigen Willen bei der Wahl ihres Lebensgefährten.«
»Der Teufel soll überhaupt die Kranken holen!«
Bierl zeigt eindrücklich, dass Gesell keineswegs wie oft behauptet für die Emanzipation von Frauen eintrat, sondern lediglich die Weichen für ein (nicht staatlich gesteuertes) eugenisches Programm der Rassenhygiene stellen wollte. Auch war er demnach wie oft unterstellt kein Kriegsgegner aus pazifistischen Gründen, sondern weil er die Besten vernichte und die Schwachen schone. Silvio Gesell fand aber auch gute, nämlich »richtige Ausrottungskriege, in denen ein Volk ein anderes verdrängt.«
1909 wünschte Silvio Gesell: »Der Teufel soll überhaupt die Kranken holen; wie schön wäre es doch für das ganze heutige Geschlecht, für alle, die heute atmen ohne Ausnahme, wenn unsere Großväter alle Kranken ausgerottet hätten! Vielleicht tun das unsere Enkel.« Früher als Gesell hoffte, hatten die Deutschen diesen Ruf vernommen.
Keineswegs unterstellt Bierl Tauschring- und Regiogeldbewegten grundsätzlich derartige Positionen. Über solche Kreise drohen sie aber anschlussfähig für eine breite Masse werden. Gerade in diesen Zeiten: Spätestens seit Sarrazin wird ein Zusammenhang zwischen Genetik und sozialem Status wieder öffentlich verhandelt. Zuletzt warb der Permakultur-Aktivist Jochen Koller in einer Rede auf einer Anti-Corona-Demo in Kempten für die Ideen Silvio Gesells. Die derzeitige Corona-Pandemie könnte nicht nur theoretisch drastische Entscheidungen über die Frage fordern, wer warum leben darf und wer sterben muss. Längst wird das Leben mancher zu Gunsten der Privilegien einer Mehrheit hintangestellt.
Peter Bierl: Schwundgeld, Freiwirtschaft und Rassenwahn. Kapitalismuskritik von rechts: Der Fall Silvio Gesell, KVV konkret, Hamburg 2012, ISBN: 978-3-930786-64-0, 250 Seiten, 24,80 Euro
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