Gegen »das Grauen an der EU-Außengrenze« demonstriert am Samstag die Seebrücke Kempten, die auch mit einem Grenzzaun in der Fußgängerzone die Verantwortung von Staat, Gesellschaft und Rechtsradikalen für die humanitäre Katastrophe aufzeigt.
Erst Freitag vergangener Woche holte die Seebrücke Kempten »ein Stück EU-Außengrenze« in die Kemptener Innenstadt. Durch den Aufbau eines »imaginalen Grenzzauns« will sie auf die katastrophale Lage an der polnisch-belarussischen Grenze aufmerksam machen. Die symbolische Installation statteten die Aktivist*innen mit Bildern und Informationen zur dortigen Situation sowie politischen Forderungen aus. Nun will die Initiative am Samstag ab 13 Uhr am »Grenzzaun« in der Bahnhofstraße mit einer Kundgebung auf die aktuell an der polnisch-belarussischen Grenze besonders »prekäre Lage für geflüchtete Menschen« und »die seit Jahren bestehende humanitäre Krise an anderen EU-Außengrenzen« aufmerksam machen. Das geht aus einer Pressemitteilung der Seebrücke von Donnerstagnachmittag hervor.
»Seit Wochen ist die Situation im belarussisch-polnischen Grenzgebiet katastrophal. Menschen, die über Belarus versuchen in die EU zu fliehen, werden systematisch aus Polen zurück in eine militärisch abgeriegelte Pufferzone gedrängt und dort festgehalten. Sie sind schutzlos Kälte, Nässe und Hunger ausgeliefert«, begründet die Initiative ihr Engagement. Mindestens zehn Menschen seien bereits gestorben, teils gewaltsame Pushbacks von polnischen Grenzsoldat*innen dafür verantwortlich. »Europäische Ambitionen, um die fliehenden Menschen vor Gewalt, Rechtsbrüchen und Kälte zu schützen«, seien dagegen nicht in Sicht. Für die Seebrücke »scheint Deutschlands einziges Interesse, die Grenze zu Polen vor schutzsuchenden Menschen mit massiver Polizeipräsenz zu sichern«, kritisieren die Aktivist*innen.
Rechtsradikale organisieren bewaffnete Push-Backs
Auch Rechtsradikale »nutzen die wachsende Fluchtbewegung, um rassistische Narrative zu verbreiten und Menschen zu jagen, die auf der Suche nach einem sicheren Zufluchtsort sind.« Das geht aus einem der Aushänge am Grenzzaun in der Kemptener Innenstadt hervor. Immer mehr militante Neonazis rufen demnach hierzulande dazu auf, selbsttätig Grenzpatrouillen an der polnisch-belarussischen Grenze durchzuführen, um Geflüchtete an einem Grenzübertritt zu hindern. »Neben den sowieso schon völkerrechtswidrigen gewaltsamen Push-Backs durch Frontex und Polizei, mobilisieren dort nun also auch noch extreme Rechte zu selbstorganisierten Push-Backs«, so die Seebrücke. 50 der selbsternannten rechtsradikalen »Grenzschützer« soll die Polizei festgesetzt und durchsucht, dabei auch diverse Waffen festgestellt haben.
Auch die hiesige AfD nutze das Thema. So schickte die Rechtsaußenpartei in der vergangenen Woche eine Delegation vor das polnische Generalkonsulat in München sowie die polnische Botschaft in Berlin, um sich bei Polen für den »engagierten Schutz der EU-Außengrenze« zu bedanken. Der Versammlung schloss sich auch der Memminger AfD-Landtagsabgeordnete Christoph Maier an und dankte Polen »für die Verteidigung der europäischen Werte, der Grenze und der Festung Europas«. Welche Werte das in Maier’s Sinne sind, zeigt ein Blick auf seine parlamentarische Arbeit. Dort hetzt der Anhänger des völkischen Parteiflügels und verbreitet rassistische Verschwörungsmythen. Ab 2019 nannte er sich zynisch »remigrationspolitischer Sprecher« der AfD-Landtagsfraktion. Auch der Lindauer AfD-Chef Rainer Rothfuß bedient sich dem Thema.
Unbekannte beschädigen symbolischen Grenzzaun
Unmittelbar nach der Installation am Freitag kam es bereits in der Nacht zum Samstag zu Beschädigungen am symbolischen Grenzzaun in Kempten. Das erklärte die Seebrücke ebenfalls in ihrer Pressemitteilung von Donnerstag. Demnach rissen Unbekannte Texte vom Zaun und entfernten die Bilder, wozu Werkzeug notwendig gewesen sei. Insgesamt seien über das Wochenende sechs Plakate mit selbstgeschriebenen Forderungen, vier Bilder und ein Text vom Zaun entfernt und entwendet worden.
»Damit wird wieder einmal deutlich, wie Teile unserer Gesellschaft auf das Elend an den Außengrenzen reagiert: Mit Verdrängung und Gewalt«, so die Seebrücke. Die Taten spiegelten die Erfahrungen wider, die die Aktivist*innen in ihrem Engagement für die Verbesserung der Lebensbedingungen Geflüchteter regelmäßig machen: »Rassistische Rufe bei Kundgebungen oder menschenverachtende Meinungen, die an Intoleranz und Empathielosigkeit nicht zu übertreffen sind.«
Seebrücke fordert »Ende der Gewalt in den polnischen und deutschen Grenzregionen«
Auch deshalb ruft die Seebrücke Kempten zur Kundgebung am Samstag auf, um »ein Zeichen der Solidarität und des Mitgefühls zu setzen und uns gegen die Abschottungspolitik der EU und den damit einhergehenden humanitären Leiden der betroffenen Menschen stark zu machen.« Passend zur Thematik werde die Kundgebung im Anschluss an den Film Route 4 stattfinden, der am Samstag um 10 Uhr im Colosseum Kempten zu sehen ist. Route 4 beschreibt die lebensgefährliche Flucht, die Menschen auf sich nehmen, um über Libyen nach Europa zu gelangen. Dabei wurde das Rettungsschiff ALAN KURDI der Organisation für zivile Seenotrettung Sea-Eye vier Missionen lang begleitet.
Mit der Kundgebung verbindet die Seebrücke Kempten ganz konkrete Forderungen. Sie ruft die Bundesregierung und die Ampelkoalition als zukünftige Regierung dazu auf, eine direkte Aufnahme der Menschen von der polnisch-belarussischen Grenze in Deutschland sofort zu ermöglichen, den Zugang zu rechtsstaatlichen Asylverfahren für geflüchtete Menschen sicherzustellen und sich für das Ende der Gewalt in den polnischen und deutschen Grenzregionen sowie das Ende der illegalen Push-Backs an der polnisch-belarussischen Grenze einzusetzen. »Vor allem« fordere man die Stadt Kempten dazu auf, »endlich nach ihrer im Juni 2020 verabschiedeten Resolution zu handeln.«