»Kein Vergessen«

Die meisten der mehr als 300 Todesopfer rechter Gewalt seit 1945 in Deutschland sind heute fast vergessen. Nun liegt erstmals eine vollständige Dokumentation der bekanntgewordenen Fälle vor.

Ein Buch, das verstören muss – und das auch soll: Über 300 Menschen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland durch rechtsmotivierte Gewalttäter gejagt, verfolgt, verprügelt, gefoltert, misshandelt und getötet. Viele von ihnen sind heute beinahe vergessen, der Großteil nicht offiziell als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Zu Opfern wurden sie – Jüd_innen, People of Color, Sinti_ze und Rom_nja, Punks, Obdachlose, Antifas – aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens, ihrer Religion, ihrer Lebensweise oder ihres politischen Engagements – oder den entsprechenden Zuschreibungen der Täter und Täterinnen.

Wenig gesellschaftliches Interesse

Mehr als 200 Menschen sind in Deutschland nach Zählung unabhängiger Stellen seit 1990 rechter Gewalt zum Opfer gefallen.
Mehr als 200 Menschen sind in Deutschland nach Zählung unabhängiger Stellen seit 1990 rechter Gewalt zum Opfer gefallen.

Mit Kein Vergessen hat Thomas Billstein im Unrast-Verlag unlängst die erste vollständige Dokumentation bekanntgewordener tödlicher Gewalttaten durch Rechte in Deutschland nach 1945 vorgelegt. Jede einzelne Falldarstellung enthält neben der Beschreibung des Tathergangs auch Informationen zur juristischen Strafverfolgung, zur Täterstruktur und zu den Tatmotiven. Ergänzt wird sie jeweils durch ein illustriertes Porträt des Opfers. Falls überhaupt ein Bild aufzutreiben war. In manchen Fällen sind nichteinmal die Namen der Opfer bekannt. Offenbar hat die postnazistische deutsche Gesellschaft wenig Interesse, ihrer zu Gedenken.

Das Buch will nicht nur der Opfer gedenken, sondern auch auf die unvermindert drohende Gefahr durch rechte Gewalt aufmerksam machen. Thomas Billstein erklärt daher einleitend, was genau rechte Gewalt ist und was genau sie von anderen Gewaltverbrechen unterscheidet. Tatmotive wie Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus oder auch Sozialdarwinismus werden erläutert und Statistiken zu Gewaltverbrechen aufgeführt. So zeigt der gelernte Offsetdrucker etwa auf, dass zu 98 Prozent Männer als Täter und rund 80 Prozent als Opfer erfasst werden. An nur 31 Prozent der erfassten Fälle ist in die unmittelbare Tathandlung nur ein Täter involviert, doch dann häufig mit hohen Opferzahlen wie etwa in beim OEZ-Attentat 2016 in München oder dieses Jahr in Halle.

»Aufgabe und Verantwortung eines jeden«

Allgemein steigt die Anzahl der Opfer wieder, resümiert Billstein. So seien in den letzten fünf Jahren (2016 bis 2020) dreimal mehr Todesopfer zu beklagen gewesen wie in den fünf Jahren davor. Auch das Täterprofil wandle sich. Die klassisch organisierten oder lose szenegebundenen Neonazis, die früher häufig zum Mörder wurden, werden heute von einem eher online durch rechte Hetze radikalisierten Tätertypus ergänzt. Dazu kämen die sich häufenden Enttarnungen von rechtsradikalen Netzwerken in Polizei, Bundeswehr und anderen Sicherheitsbehörden sowie der Einzug von Neonazis in alle Parlamente im Rahmen eines gesamtgesellschaftlichen Rechtsrucks.

Angesichts dieser allgegenwärtigen Bedrohung durch zunehmende tödliche Gewalt und einen sich neu formierenden Rechtsterrorismus sei es laut Billstein »Aufgabe und Verantwortung eines jeden, gegen rechtsextreme und menschenfeindliche Hetze vorzugehen.«

Thomas Billstein: Kein Vergessen. Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945 (mit Illustrationen von moteus), ISBN 978-3-89771-278-2, Unrast-Verlag, Oktober 2020, 344 Seiten, 19.80 Euro

Auf Twitter und Facebook kuratiert der Autor Thomas Billstein einen Gedenkkalender für die Opfer rechter Gewalt.


Hilfe: Du hast selbst einen Übergriff erlebt?

Dann kannst du Hilfe bei B.U.D. Bayern bekommen. Das ist eine unabhängige Beratungsstelle für Betroffene von rechten, rassistischen und antisemitischen Übergriffen.

Zeug_innen können sich an B.U.D. Bayern wenden, dann wird der Vorfall registriert und Betroffenen geholfen – wenn sie das wollen.

Wenn du in Baden-Württemberg bist, ist dieLeuchtlinie für dich da.

Eltern, Angehörige und Freunde von Jugendlichen, die sich rechts orientieren, können Hilfe bei der Elternberatung bekommen.

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